Julia Siegenthaler
Noch vor einem Jahr war es für Julia Siegenthaler undenkbar, in der Öffentlichkeit in Erscheinung zu treten. Allein die Vorstellung, vor Menschen zu sprechen oder auf andere Weise die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, löste in ihr panische Angst und Fluchtgedanken aus. Heute ist das anders. Die 43jährige Expertin für integrale Heilung und transpersonale Prozessbegleitung mit eigener Praxis in Bern hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt. Nicht nur ihr Auftreten vor Publikum hat sich dadurch von Grund auf verändert, sondern ihr gesamtes Lebensgefühl.
Was ist geschehen und wie ist das möglich?
Julia Siegenthaler fasst ihre Erfahrung wie folgt zusammen: »In meinen jüngsten Ausbildungen habe ich gelernt, dass es möglich ist, sich den eigenen Wunden und Ängsten aufmerksam zuzuwenden, anstatt sie zu ignorieren und mit viel Energieaufwand zu überspielen. Ich habe erlebt, dass das durch einen vollkommen präsenten, einfühlsamen Menschen begleitete Zulassen und wirklich tiefe Fühlen von Schmerz, Trauer, Wut, Angst, Scham, Schuldgefühlen – was auch immer da gerade in einem lebt – eine zutiefst heilsame Wirkung entfaltet. Denn die Welle der Emotion ist immer irgendwann vorüber, und was danach, in diesem Moment der Ruhe nach dem Sturm in meinem Innern jeweils entstehen konnte, war stets von ungeahnter Kraft, ermutigend, haltgebend, lebensbejahend. Und so konnte ein immer größeres Vertrauen in mir wachsen, ein neues Bewusstsein für meinen nicht an Leistungen geknüpften Wert als Mensch und eine liebevolles Annehmen meiner Unzulänglichkeiten. Das befreit. Nicht nur von Ängsten und Zweifeln, sondern auch von zahlreichen anderen begrenzenden inneren Überzeugungen und Abwehrhaltungen. Und es lässt mich immer mehr innere Grenzen überwinden und die Herausforderungen des Lebens grundsätzlich entspannter angehen.«
So war ihre frühere Angst beispielsweise gar kein grosses Thema mehr, als Julia Siegenthaler am 27. Mai 2022 an einem internationalen Speaker Slam in Deutschland teilnahm. Julia Siegenthaler betont, dass zielgerichtete Coachings und Auftrittstrainings bei Auftrittsangst durchaus eine wertvolle Unterstützung sein können. Denn Strategien würden helfen, in bestimmten Situationen handlungsfähig zu bleiben und sich von der Angst nicht komplett blockieren zu lassen. Auch regelmäßige Übung lasse irgendwann den Meister in uns erwachen. Und für viele Menschen möge das ausreichen, um die Angst irgendwann in den Hintergrund treten zu lassen und Auftritte erfolgreich zu meistern. Allerdings gebe es zahlreiche andere, die ihre Auftritte mithilfe von Strategien zwar irgendwie bewältigten, dafür aber unverhältnismäßig viel Kraft und Nerven aufwenden müssten und ihre Angst vor dem Auftritt letztlich nie verlieren würden.
Außerdem stelle sich die Frage: Was ist mit der Freude? Mit der Begeisterung beim Auftritt, der Lust am Sichtbarwerden mit dem, was man zu sagen hat? Wo bleibt die Leidenschaft beim Überbringen der Botschaft, wenn die eigene Energie hauptsächlich darauf verwendet werden muss, die Angst im Zaum zu halten? Hierhin führe für die meisten vermutlich keine Strategie, meint Julia Siegenthaler, sondern allein die Auseinandersetzung mit den Wurzeln der Angst – und zwar nicht auf einer kognitiv-analytischen Verständnisebene, indem wir unsere Lebensgeschichte aufarbeiten, sondern durch eine emotional-seelische Annäherung, die uns wieder in Kontakt bringt mit uns selbst, mit unseren verletzten ebenso wie mit unseren heilen inneren Anteilen und schließlich mit unserer vertrauensvollen Ganzheit. Gelinge genau das, werde es keine Strategie mehr brauchen, um einen Auftritt zu überstehen. Es sei zwar kein bequemer Weg, jedoch definitiv ein lohnender. Denn das persönliche Erleben werde ein komplett anderes sein.