„Es wird wieder gelacht!“

Wie man heilige Kühe im eigenen Haus schlachtet

Stell Dir vor, Du wachst eines Morgens auf und zu Deiner eigenen Überraschung hast Du Dich in einen anderen Menschen verwandelt. Du bist ab sofort der neue Premier von Großbritannien. Du erwachst im Schlafgemach, machst Dich im Bad frisch für den Tag und begibst Dich in den Speisesaal, wo das Personal für Dich bereits ein leckeres englisches Frühstück vorbereitet hat. Du kaust genüsslich auf Deinen Baked Beans herum, da setzt auch schon die typische Wirkung dieser Bohnen ein: Du verspürst ein unmittelbares Verlangen, auf der linken Seite der Straße zu fahren. „Doch halt,“ denkst Du Dir, „bin ich nicht angetreten als Premier von Großbritannien, um das Land zu modernisieren, um es in die Zukunft zu führen? Die ganze Welt fährt auf der rechten Seite der Straße, einige Länder haben längst von Links- auf Rechtsverkehr umgestellt, nur wir hier in England und ein paar unserer früheren Kolonien fahren noch links.“ Und weil gerade keine anderen dringlichen politischen Probleme anstehen, beschließt Du: „Die Sache muss ein Ende haben. Schluss mit dem Linksverkehr! Ab sofort fahren wir in Großbritannien genau so, wie im Rest der zivilisierten Welt auch: Auf der rechten Seite der Straße!“ Doch schon kommen Dir erste Bedenken: „Ist das nicht ein bisschen zu radikal? Muss man die Leute nicht mitnehmen, sie Schritt für Schritt an den Wandel heranführen?“ Und so fasst Du einen Plan: In der ersten Woche fahren nur die LKW auf der rechten Seite, in der zweiten Woche auch die Busse, und in der dritten Woche alle Verkehrsteilnehmer. Das ist allmählicher Wandel – dann können sich die Leute langsam dran gewöhnen.

Natürlich hast Du sofort gemerkt: So geht das nicht! In diesem Beispiel wird ein allmählicher Wandel nicht funktionieren. Wenn man auf Rechtsverkehr umstellen will, dann alle auf einmal. Hier funktioniert nur ein radikaler Wandel! Schweden hat es genau so gemacht am „Tag H.“ Das H ist die Abkürzung für das schwedische Wort für „Umstellung auf Rechtsverkehr.“ Ab Sonntagmorgen, dem 3. September 1967 um 5 Uhr früh, musste man statt auf der linken auf der rechten Fahrbahn fahren. Und zwar alle! Das hat so gut funktioniert, dass niemand zu Schaden gekommen ist.

Beide Arten von Wandel habe ich erlebt in rund 25 Jahren Digitalisierungsprojekten. Meist den allmählichen, den schrittweisen Wandel. Den fand ich nie besonders spannend, weil er mich zu sehr an den barocken Gesellschaftstanz „Menuett“ erinnert: Drei Schritt vor und zwei zurück. Viel interessanter finde ich im Gegensatz dazu den radikalen Wandel. Der ist konsequenter, und hier besteht eine größere Chance, dass sich wirklich etwas zum Guten verändert. Allerdings weiß man wenig darüber; es gibt kaum Literatur und noch weniger Forschung über radikalen Wandel. Also habe ich selber angefangen, darüber zu forschen. Interessante Einsichten über radikalen Wandel habe ich dabei gewonnen. Zum Beispiel diese: „Es wird wieder gelacht!“ Soll heißen, in einer Organisation, in der alle vorher ganz furchtbar steif und ernst waren, war hinterher das Arbeitsklima viel gelöster und man hörte die Mitarbeiter viel öfter lachen als zuvor.

Woher ich das weiß? Ich habe weltweit Experten für radikalen Wandel interviewt. Experten aus vier Kontinenten haben mir berichtet von ihren Erlebnissen und Erfahrungen. Diese Interviews habe ich ausgewertet und mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft abgeglichen, die Einsichten zu einem übersichtlichen Modell zusammengefasst und dann das Ganze als Doktorarbeit eingereicht. So bekam ich auf meine alten Tage im November 2019 einen Doktortitel verliehen. Eigentlich bin ich jetzt Kuh-Doktor, denn im Titel der Arbeit geht es um das Schlachten heiliger Kühe in Organisationen.

Warum eigentlich heilige Kühe? Weil mir die Experten erzählt haben, dass echte Veränderung immer etwas mit Umdenken zu tun hat. Der Fachbegriff dafür ist Paradigmenwechsel. Umgangssprachlich reden wir vom Schlachten der heiligen Kuh. Hier sind ein paar Dinge, die ich von den Experten gelernt habe und die hoffentlich ebenso für Dich nützlich sind, wenn Du auch mal ein paar heilige Kühe in Deiner Organisation schlachten willst.

Was ist denn jetzt anders beim radikalen Wandel im Vergleich zum allmählichen, schrittweisen Wandel? Radikaler Wandel in Organisationen bedeutet, etwas Neues zu erschaffen, etwas, das in dieser Art vorher nicht da gewesen ist. Dieses Neue hat einen unternehmerischen Charakter. Es hilft dabei, die Perspektive zu wechseln. Einige Experten nannten das „inside-outside.“ Gemeint ist damit das, was wir in der deutschen Redewendung kennen als „nicht IM Unternehmen arbeiten, sondern AM Unternehmen arbeiten.“

Jetzt magst Du vielleicht erwidern, dass Deine Organisation keinen radikalen Wandel braucht. Ach wirklich? Ich habe meine Experten gefragt: „Kann es sein, dass vielleicht jede Organisation hin und wieder einen radikalen Wandel braucht?“ Die Meinungen dazu waren gespalten, und zwar ziemlich genau zur Hälfte. Der eine Teil der Experten meinte, jede Organisation sollte sich alle paar Jahre einem radikalen Wandel unterziehen und ein paar heilige Kühe schlachten, idealerweise bevor es zur Krise kommt. Die andere Hälfte der Experten sah eine Notwendigkeit für radikalen Wandel nur, wenn sich eine dieser drei Voraussetzungen ereigneten: Entweder neue Gesetze, die das bisherige Modell in Konflikt mit dem Gesetzgeber brachten. Oder zweitens neue Technologien, sodass die eigene Konkurrenz ihre Kunden mit moderneren Arbeitsweisen beeindrucken konnte und man selber irgendwie als altbacken da stand (Stichwort Digitalisierung). Und zuguterletzt Akte höherer Gewalt, wie z.B. bei 9/11 oder bei der Corona-Pandemie. All dies können Anlässe sein, mal im eigenen Unternehmen gut durchzukehren und sich von ein paar heiligen Kühen (sprich: veralteten Arbeitsweisen) zu trennen.

Zunächst einmal geht es also darum, für sich selber zu entscheiden, ob die Zeit reif ist für einen radikalen Wandel im eigenen Haus. Vielleicht ist momentan gar nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Wenn aber doch jetzt gerade die Zeit gekommen ist, sich von ein paar heiligen Kühen zu trennen, dann stellt sich die nächste Frage: Was sollte man denn alles beachten, damit so ein radikaler Wandel auch gelingt? Auch dazu haben mir meine Experten ein paar Tipps mit auf den Weg gegeben. Mehr dazu gerne beim nächsten Mal.

 

Über den Autor

Dr. Stephan Meyer ist Kammerjäger für heilige Kühe. Er begann seine berufliche Safari als Diplom-Psychologe für Organisationsentwicklung bei Accenture. Auf großen Digitalisierungsprojekten sorgte er unter anderem mit dafür, dass man Bahntickets im Internet kaufen kann. Seit 20 Jahren hilft er auf selbstständiger Basis Organisationen quer durch alle Branchen dabei, sich zu modernisieren und zu digitalisieren. Er ist tendenziell eher Avantgarde als Mainstream. 2019 bekam Stephan Meyer den Doktortitel verliehen für seine Forschung in Betriebswirtschaft über radikalen Wandel durch das Schlachten heiliger Kühe in Organisationen. Man kann ihn erreichen über StephanMeyer.com und Wandelprediger.com.

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